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AVIVA-BERLIN.de 9/8/5784 - Beitrag vom 29.11.2020


AVIVA-Interview- + Fotoprojekt JETZT ERST RECHT: Esther
Esther Kontarsky, Sharon Adler

Um die Gedanken und Erfahrungen, Perspektiven und Forderungen jüdischer Menschen zu Antisemitismus in Deutschland sichtbar zu machen und ihnen abseits der Statistiken ein Gesicht und eine Stimme zu geben, hat die jüdische Fotografin und Journalistin, Herausgeberin von AVIVA-Berlin, Sharon Adler das Projekt "JETZT ERST RECHT! STOP ANTISEMITISMUS!" initiiert, das von der Amadeu Antonio Stiftung gefördert wird. Eine der Teilnehmer*innen ist die Museumspädagogin, Musikwissenschaftlerin, Judaistin und Übersetzerin Esther Kontarsky. Ihr Slogan lautet: JETZT ERST RECHT! - "STOP ANTISEMITISMUS & RASSISMUS – we need more education!"




AVIVA: Thema Antisemitismus in Deutschland heute: Der Jahresbericht 2019 des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Bundesverband RIAS) e.V. dokumentiert 1.253 antisemitische Vorfälle in vier Bundesländern. Kannst Du in dem aktuellen Kontext bitte einmal genauer erläutern, welche Message Du mit Deinem Statement "we need more education!" auf unserem Demo-Plakat transportieren willst?



Esther Kontarsky: Ich frage mich ja immer, inwieweit das stimmt, dass sich wirklich alle Schulen mit dem Thema Shoa befassen. Tun das wirklich alle? Wie genau wird das getan, falls ja? Wie wird es begleitet, vorbereitet, nachbereitet, wenn eine Gedenkstätte besucht wird? Wie wird das Thema praktisch durchgenommen? (Ich muss dazu sagen, ich rede etwas aus Erfahrung. Beispielsweise fiel in unsere Abiturszeit die urplötzliche Entdeckung, dass das Thema tatsächlich prüfungsrelevant sein könnte und so bekam die Klasse übers Wochenende drei, vier Blätter mit quasi den wichtigen Eckdaten in die Hand gedrückt. Oder es finden sich im Museum verdächtig viele höhere Schulklassen, die schlicht keine Kenntnis der Daten haben und ich kann es mir nur damit erklären, dass der Komplex NS und Shoa eben nicht flächendeckend selbstverständlicher Bestandteil des Curriculums ist). Das scheint mir als das erste Fragezeichen. Dann die Frage, wenn es im Unterricht behandelt wird: unter welchen Bedingungen lernen die Jugendlichen? Wer sind die Lehrer? Wie wird es vermittelt? Mit welchem Ziel? Wieviel Zeit wird dem Thema und auch den Wegen eingeräumt, die dahin geführt haben? Was nehmen die Schüler mit und welche Methoden erfahren sie, um die Erkenntnisse daraus auf ihre eigene Zeit anzuwenden?

Was Bildung allgemein angeht, finde ich eine Entwicklung bedenklich, in der aus ökonomischen Überlegungen das Einschulungsalter vorverlegt, Schuljahre eingespart oder auch – wie man seit vielen Jahren beobachten kann, Schulfächer zur Disposition gestellt oder auf ein kleineres Format heruntergebrochen werden. Bildung, Schulbildung, kann man nicht unter rein ökonomischen Gesichtspunkten verhandeln. Zumal Bildung ein öffentliches Gut und im Grundgesetz verankert ist. Auch die gelegentliche Diskussion zur Frage der Nützlichkeit klassischer Schulfächer für das spätere Leben. Sicher ist Praxisbezogenheit im Curriculum wichtig – das aber bedeutet gerade, sich eben nicht für weitere Kürzungen bei Schulzeit und Inhalt einzusetzen, eher vielleicht für Ergänzungen und Erweiterungen, die die geistige Arbeit komplementieren.

Bildung und Menschwerdung hängen eng miteinander zusammen. Allein zu wissen, was es denn noch gibt außerhalb meines mehr oder minder kleinen Radius´, der Jahreszahlen meines eigenen kleinen Lebens, was denn da noch ist jenseits des Küchentisches. Das heißt, bei der Bildung kann man einfach keine Abkürzung machen, zumindest nicht folgenlos. Jeder muss da durch und Fächer wie Geschichte und Politikwissenschaft müsste es eigentlich verbindlich bis zum Abitur geben. Und ich würde behaupten: Ja, genau das braucht man später im Leben. Um ein mündiger Mensch sein zu können.

AVIVA: Welche Maßnahmen in der Jugend- oder Erwachsenenbildung wären Deiner Meinung nach wichtig für eine wirksame Bildungsarbeit gegen Antisemitismus und in der Vermittlung der Shoah? Welchen Auftrag siehst Du in der Arbeit der Bildungsinstitutionen? Was kann nachhaltig wirken und wo siehst Du mehr Bedarf?

Esther Kontarsky: Ich sehe viel Potential in der Arbeit von Museen, in Weiterbildungsformaten und Workshops von Betrieben, der Gewerkschaften, von Organisationen, die sich der antirassistischen Arbeit verschrieben haben – warum sollte zur fachbezogenen nicht auch die gesellschafts- und kulturwissenschaftliche Weiterbildung gehören? Was mir dabei aber zentral erscheint, ist, wie man die Multiplikatoren selbst so schult, dass sie diese Inhalte kompetent weitervermitteln können.

Am besten wäre natürlich ein Szenarium, in dem sich alle Seiten im Alltag begegnen. In dem also das Bewusstsein für Gemeinsamkeiten und Zeitgenossenschaft prinzipiell durch geteilte Sorgen oder Interessen generiert wird. Nur ist die Frage der Konfrontation mit Juden heute in Deutschland schwierig, wenn annähernd 84 Millionen grob gerechnet fünf Juden gegenüberstehen. Da ist es nachgerade unwahrscheinlich, je mal einen Lebendigen zu Gesicht zu bekommen. Bilder und Eindrücke aus Geschichtsbüchern, sogar Gedenkformate oder Dokumentationen sind da schneller und das birgt die Problematik, dass man den Anderen bestenfalls in einem Frame anguckt, der sich auch nicht ohne intensivere inhaltliche Vorbereitung erschließt. Dass da jemand nicht leicht als "normal und wie alle anderen" betrachtet wird, ist gar nicht so überraschend. Insofern halte ich natürlich viel von Konzepten wie Meet a Jew oder auch die Reisen des Happy Hippie Jew Bus – weil es reale Menschen ohne musealen Anstrich sind.

Letztlich sind das aber Stippvisiten. Und reichen nicht aus – zudem sind es wieder einmal Initiativen, die von jüdischer Seite aus auf die Beine gestellt werden. Ein Stichwort in der Bildungspolitik von Heute sind ja die Kompetenzen. Dazu würde ich auch die zählen, die dabei helfen, Mechanismen zu erkennen die antisemitisch sind, antiliberal, die einen verschwörungstechnischen Gehalt haben. Das zu erkennen, dazu muss man geschult werden.

Die Grundidee hinter der jüdischen Freischule im 18 Jahrhundert ist ja gewesen, dass nicht nur eine große Bandbreite an Schulfächern und damit Bildungswelten an die Kinder herangetragen wird, sondern auch, dass – wie im Falle der Hamburger Freischule´- eine junge jüdische wie nichtjüdische Generation gemeinsam die Schulbank drückt und idealerweise gemeinsam die wesentlichen Meilensteine bis zum Erwachsenenalter durchläuft. In gewisser Weise stand dahinter der Gedanke, dass Vorurteilen vorgebeugt werden kann, indem Menschen von klein auf Diversität erleben und so die Erfahrung und eigentlich Binse, dass nicht alle Menschen die gleichen biografischen Erfahrungen mitbringen, dass sie sich gleichwohl spiegeln durch die Tatsache, dass sie Zeitgenossen sind und gemeinsam wachsen.

Auch die staatliche Schullandschaft wäre im besten Falle dazu geeignet, die Gesellschaft und ihre Diversität zumindest im Groben abzubilden. Schwierig wird es, wenn staatliche Bildung gegenüber der privaten zurückgedrängt wird, oder auch wenn sich Stadtgebiete und Gesellschaftsteile abkapseln. Oder wenn der Staat nicht mehr in Bildung investieren mag, und sich denkt: Wie praktisch, wenn die Leute sich selbst helfen indem sie Privatschulen gründen. Staatliche Schulen sind sicherlich nicht perfekt, aber ein Lehrplan, der im Idealfall einer gesellschaftlichen Vereinbarung folgt, ist transparent. Trotz meiner geäußerten Kritik in der Antwort auf die erste Frage. Wie sieht es aus, wenn Bildung ausgelagert wird? Wieweit lassen sich dann Inhalte überprüfen? Und ich verstehe oft nicht, wie es sein kann, dass die Politik nicht wenigstens aus reinem Eigennutz zu dem Schluss kommt, dass eine erstklassige und anspruchsvolle staatliche Bildungslandschaft für Alle auf die lange Sicht zumindest theoretisch ihre Wiederwahl ermöglicht. Eine Demokratie ist kein Selbstläufer, wie sich ja gegenwärtig ganz eindrücklich beobachten lässt. Als offene Gesellschaft entwickeln wir uns eben nicht automatisch weiter und erreichen einen utopischen idealen Zustand, in dem entsprechende Wertevorstellungen für alle Zeiten betoniert sind.

AVIVA: Unter Kindern und Jugendlichen wird das Wort "Jude" auf Schulhöfen oder in sozialen Netzwerken ganz offen als Schimpfwort benutzt. Es bleibt aber nicht immer bei verbalen Attacken, sondern kommt immer wieder zur Gewaltbereitschaft durch Schüler*innen.
Hast Du selbst eine solche Stimmung oder Vorfall schon einmal, zum Beispiel in Deiner Schulzeit, an der Universität, real bzw. im öffentlichen oder im virtuellen Raum, miterleben müssen? Oder wurden Deine Kinder schon einmal Opfer oder Zeug_in von Antisemitismus? Falls ja, was habt ihr deswegen unternommen?

Esther Kontarsky: Tatsächlich kenne ich die Verwendung des Begriffs "Jude" als Schimpfwort in Schul- und sonstigen Zusammenhängen nur aus Erzählungen. Zu meiner Zeit war es eher die Beleidigung "Ausländer". Handfest bedrohliche Situationen habe ich nur ein paarmal erlebt, aber immerhin nicht nur in Deutschland.

An der Universität während des Golfkriegs, nachdem Saddam Hussein nach einigen Fehlversuchen endlich ein gelungenes Narrativ zur Begründung der Annexion Kuweits aus der Tasche gezaubert hatte – er wolle eigentlich auf die Situation der Palästinenser aufmerksam machen – und das im linken Spektrum, zu dem ich mich unverändert zähle, fabelhaft ankam, haben wir jüdischen Studenten erlebt, wie wir mit Israel identifiziert wurden. Und da war viel Aggression im Spiel. Neben dem kleinen Schock hierüber, war es auch der Schock angesichts der wirklich enttäuschenden Tatsache, dass westliche angehende Akademiker einem Autokraten auf den Leim gehen. Die israelische Politik kritisieren und oder sich für die Palästinenser einsetzen, ist ja das eine. Aber sich ins Fahrwasser eines miesen Autokraten zu schwingen, etwas anderes.

Meine Tochter ist in der Grundschule – die staatlich war – einmal ansatzweise in eine derartige Lage geraten, aus der allerdings glücklicherweise nichts wurde, weil sich ihre Klassenkameraden geschlossen vor dieses Kind gestellt haben. Da kann man mal sehen, was man bewirken kann, wenn man Rassisten – und seien sie noch so klein – klare Grenzen setzt. Aber es war eine Europaschule mit viel Diversität, was vielleicht auch eine Rolle spielt. Einer meiner Söhne ist in zwei antisemitische Situationen geraten – außerhalb der Schule. Unternommen haben wir nichts, weil er über schlechte Erfahrungen nicht sofort spricht.

AVIVA: Antisemitismus hat eine lange "Tradition", und das nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Auf YouTube und sozialen Netzwerken, aber auch im öffentlichen Raum wird offen gegen Jüdinnen und Juden gehetzt. Welche Klischeebilder werden bedient, wo bist Du selbst schon welchen begegnet?

Esther Kontarsky: Ich bin ja - wenn - nur in einem sozialen Netzwerk unterwegs, und befinde mich dort eher in einer Blase. Aber im öffentlichen Raum und in den Kommentarspalten, aber auch in der Themensetzung mancher Tageszeitungen, findet sich leider genug Material, das diese Kontinuität spiegelt.

Klischeebilder – Geld, Juden müssen keine Steuern zahlen, Millionen Juden haben in Deutschland gelebt, leben in Deutschland und haben Macht ausgeübt. Sie waren so reich. Sind so reich.
Unterstellung. Macht. Kontrolle. Fiese Hintergedanken. Denunziation. Angehörige eines übermächtigen Konstrukts, das nichts anderes will als andere kontrollieren und letztlich unterjochen. Auch die Tatsache, dass bei Bemerkungen zur Verfolgung von Juden immer der Verdacht mitschwingt, sie hätten etwas getan, was diese Verfolgung getriggert habe.

Oder Judenwitze im Gegensatz zu jüdischen Witzen.
Das hervorstechendste Merkmal bei allem ist die Obsession. Mit einzelnen Menschen – George Soros oder auch hierzulande besonders Anetta Kahane. Die Obsession mit Eigenschaften oder Attributen, die angeblich jüdisch seien. Und das Merkwürdige daran ist die gleichmäßige Verteilung von antisemitischen Vorstellungen in wirklich allen Schichten der Gesellschaft. Ganz gleich, welcher Bildungshintergrund – jede Gruppe, jeder Hintergrund hat das Zeug zum Antisemiten. Und lustigerweise ist es nicht mal so, dass die mit der größeren Bildung subtiler sind oder es besser überspielen können. Wollen vielleicht, aber auch da bin ich mir nicht ganz sicher.

Ein weiteres Element ist etwas, das ganz schwer zu greifen ist. Ein Raunen. Man liest einen Text oder hört sich die kritischen Worte einer Person an und angesichts einer Erregtheit, deren Ursache aber nicht im Verhältnis steht mit dem verhandelten Gegenstand fragt man sich: worum geht es? Welches Ziel hat diese schlechte Laune wirklich? Schon bei Treitschke fragt man sich, was will er denn wirklich sagen, woher kommt diese unterliegende Regung, diese Aggression? Die Wut auf jemanden wie Igor Levit, bei der allenfalls eines klar hervortritt: der Neid angesichts von Begabung und eines klaren Kompasses, also einer eindeutigen Haltung zu politischen und gesellschaftspolitischen Fragen. Auch sichtlich über die Schnelligkeit, mit der er ironische Bemerkungen raushaut – während andere entweder nichts zu sagen haben oder noch an einer Formulierung basteln oder darüber nachdenken, ob sie sich karrieretechnisch einen Standpunkt leisten können.

Auch ein weiteres – eher strukturelles – Detail, das ich oben schon einmal angedeutet habe: Die Verkehrung von Fakten und Verhältnissen. Einerseits ist da die Beschwerde über das Geld, das Deutschland an "Wiedergutmachung" zahlt, womit sich die Juden angeblich bereichern. In Wirklichkeit ist es ja gerade umgekehrt und die Deutschen haben sich schamlos an Juden bereichert. Ich erinnere mich an eine Situation, in der ich was zu ethischen, moralischen Grundsätzen des Judentums sage und ein Teilnehmer ganz aufgebracht fragt: Aber die Juden – halten die sich eigentlich daran?

AVIVA: Synagogen, Schulen und jüdische Einrichtungen in Deutschland stehen unter Polizeischutz. Und dennoch: Am 9. Oktober 2019, zu Yom Kippur, dem höchsten Feiertag im jüdischen Kalender, hat ein rechtsextremistischer, antisemitischer 27-jähriger Attentäter einen Mordanschlag auf die Synagoge in Halle verübt und am 4. Oktober desselben Jahres versuchte ein Mann in Berlin, mit einem Messer in die Synagoge in der Oranienburger Straße einzudringen. Und der brutale Angriff auf einen jüdischen Studenten vor der Hamburger Synagoge am 4. Oktober 2020. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. …Wie sicher fühlst Du Dich in Deutschland?

Esther Kontarsky: Mit Blick auf die Situation an mehreren anderen Orten auf der Welt, würde ich schon sagen, dass ich hier als Jüdin eher sicher bin. Und ich will gerne, dass es auch so bleibt. Zugleich sehe ich Ereignisse, wie Du sie in Deiner Frage nennst, als echte Bedrohung. Auch das Verhalten von Polizei und Justiz empfinde ich bestenfalls ambivalent.

Anders als Berlin aber ist ja Halle das Beispiel dafür, was passiert, wenn die Polizei eben nicht schützt. Es beweist sozusagen physisch, was wir ja oft erklären müssen: die Notwendigkeit für diese fast grotesk dominierende Präsenz von Objektschutz vor jüdischen Einrichtungen. Es ist nicht gesund, aber man muss diese Rechnung aufmachen, an deren Ende letztlich das nackte Leben steht.

Dass es notwendig ist, frustriert aber auch. So wenige Juden in Deutschland und überhaupt Europa, fast zweitausend Jahre in Scherben und trotzdem gibt es Leute, die offenbar keine anderen Interessen oder Sorgen haben, als Juden zu bedrohen.

AVIVA: Aktuell hast Du mit Deinen Kindern und mit Shlomit Tulgan (bubales) für die Kinderwelt ANOHA / dem Kindermuseum im Jüdischen Museum Berlin, für Besucher_innen im Kita- und Grundschulalter, eine Erzählung der Arche Noah aus der Tora künstlerisch aufbereitet > Mit dem Stück Wir Tiere der Arche Noah führt ihr in die Welt der halbvergessenen türkischen Schattentheater-Kunst ein. Die Teilnehmer*innen führten das Stück auf Deutsch, Türkisch und Hebräisch auf. Erstmals gezeigt wurde es auf der virtuellen Langen Nacht der Religionen 2020. Worum geht es dabei, was bedeutet "Karagöz" und warum ist die Vermittlung von interreligiösen Kompetenzen deiner Meinung nach so wichtig?

Esther Kontarsky: Ich muss hier präzisieren: es ist erst einmal Shlomits Projekt – ich hatte zwar von Schattentheatern gehört, aber allenfalls von Balinesischen. Dass diese szenische Kunst geografisch und auch kulturell viel näher liegt, war für mich eine echte Überraschung. Shlomit könnte es sicher viel besser erklären, aber ich versuch´s mal selbst.

Karagöz ist eine Art türkisches Kasperletheater. Die Figuren darinnen, Taswire genannt, sind aus bemalter Kamelhaut und bewegen sich hinter einer Gaze. Grundkonstellation im Spiel sind zwei Figuren, Karagöz und Hacivat, die beide Antagonisten jeweils des anderen sind. Der eine ein entspannter Mann aus dem Volk, der andere ein gebildeter bzw. halbgebildeter Bürger. Der Plot ist sozusagen der spaßige Konflikt zwischen beiden Figuren, angereichert mit noch anderen Figuren. Das Besondere am Material von Shlomits Figuren ist, dass sie quasi vegetarisch sind. Bemaltes Papier, manchmal Filterpapier, anstatt bemalter Tierhaut. Shlomit haben wir als Chorleiterinnen, also meine Kollegin Meltem vom Türkischen Konservatorium und ich, und auch unsere tollen Sänger, nicht zu vergessen auch die tollen Spieler hinter dem Screen unterstützt. Klar haben wir alle mitgestaltet, so wie unzählige Berliner und nicht-Berliner Familien, die sich am Schneidetisch ausgetobt haben – aber wie gesagt: die Koved geht an Shlomit, die uns alle durch dieses Projekt zusammengebracht hat.

Ganz allgemein finde ich, dass ein Projekt, bei dem sich Alltag und zugleich das Außerordentliche – die Bühne, der Filmscreen – vermischen, die unterschiedlichen Begabungen und zugleich der Spaß an einem gemeinsamen Projekt, einen nicht zu ermessenden Wert haben. Wenn man sich mit Inhalten auseinandersetzt und nicht mit dem möglichen Reden über den anderen. Wir sind ja als Juden eine wirklich fast verschwindende Minderheit – Zahlen, die wirksam in der Öffentlichkeit verhandelt werden, sind ja gewissermaßen interessengesteuert. Die Vermittlung interreligiöser und interkultureller Kompetenzen hat ja auch mit der Frage zu tun: wer sieht wen, nehmen wir uns denn gegenseitig wahr und zwar auf eine zugewandte Art und Weise? Was mir an dem Projekt besonders gefällt, ist die gegenseitige echte Wertschätzung. Was hat der andere zu sagen, wie drückt er es künstlerisch oder in Worten aus? Kann man ja auch schön in den Videoclips zur Langen Nacht der Religionen am 12. September sehen.

AVIVA: Wo, denkst Du liegen die größten Chancen, aber auch die größten Herausforderung in der Bildung von jüdisch-muslimischen Allianzen?

Esther Kontarsky: Wir haben ja Gemeinsamkeiten – beide lassen wir unsere Söhne beschneiden, beide haben wir Speisevorschriften unterschiedlichen Grades. Wir haben eine stark praxisbezogene Form des religiösen Daseins. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Auch im Zusammenhang mit dem rassistischen oder antisemitischen Narrativ sind wir in ähnlicher Lage mit allenfalls dem Unterschied, dass das antimuslimische Narrativ den Muslimen nichts zutraut, während das antisemitische Gegenstück Juden zwischen zwei Extremen lokalisiert, stets mit der fiesesten Absicht bewaffnet.

Die größten Chancen liegen darin, dass wir tatsächlich eine viel breitere Aufmerksamkeit in Bezug auf unsere Anliegen und Erfahrungen generieren können, weil wir mit mehr Stimmen reden. Die größte Herausforderung ist leider die Tatsache, dass manche Muslime nicht frei sind von Antisemitismus und es auch unter uns Juden solche mit antimuslimischen Regungen gibt. Und das ist ein Punkt, dessen wir uns wesentlich annehmen müssen. Aber nicht nur, damit wir realistisch den Wert des gemeinsamen Sitzens im Boot einschätzen können (so etwas ist ja nicht zweckgebunden) sondern auch, weil es ganz generell enorm unwürdig ist, so über Menschen zu denken.

AVIVA: Wo hast Du in der Vergangenheit bei offenem oder verstecktem Antisemitismus Unterstützung vermisst, wo wünschst Du Dir heute mehr Unterstützung, Support, Empathie, Solidarität in der Zukunft? (von Seiten der Zivilgesellschaft, im nicht-jüdischen Freund_innenkreis, etc.)?

Esther Kontarsky: Vielleicht das an erster Stelle. Mein Freundeskreis – die Menschen darunter, die nicht jüdisch sind – ist ganz wunderbar.
Allgemein aber wünsche ich mir Solidarität, eine klare, eindeutige Haltung vom nicht-jüdischen Teil der Gesellschaft. Dass nicht wir es sind oder auch der Antisemitismusbeauftragte, die uns selbst gegen Antisemitismus verteidigen, egal von welcher Seite er kommt. (Dass generell nicht die Opfer von Rassismus und Ausgrenzung es sind, die auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam machen und reagieren). Sondern dass die Gesellschaft selbst es in die Hand nimmt. Idealerweise, weil sie der Ansicht ist, dass Antisemitismus und Fremdenhass keinen Platz in ihrer Mitte oder auch der Welt haben dürfen und überzeugt davon ist, dass es ihr entschiedenes Handeln erfordert und dass es ihre eigene Angelegenheit ist. Leider habe ich oft das Gefühl, dass die Leute zwar finden, dass Hitler schlecht war, aber der modernen Spielart seiner Ideologie bestenfalls tatenlos gegenüberstehen.

Vielleicht klingt das sehr altmodisch, aber ich finde, öffentliche Personen haben eine Vorbildfunktion, was ihr Auftreten, ihre Sprache angeht. Auch dahingehend, wie sensibel und bewusst sie in Hinsicht auf Marker, auf Personengruppen sind, welche Sprache sie bei der Beschreibung, Ansprache, bei der Bewertung von Ereignissen oder einfach dem Alltag wählen. Sie besitzen ja ein quasi naturgegebenes Forum. Grobheiten oder Ungenauigkeiten, Ausfälligkeiten, können eine Art Einladung zur Nachahmung sein oder ein "Entitlement" bewirken, das zwar absurd ist, aber nicht ungefährlich. Damit können Dammbrüche markiert werden.

Auch die Frage, wo und mit wem öffentliche Solidarität geübt wird. Dass sich Parteien zugunsten von Menschen stark machen, die auf diese Grenzverschiebung, diese Dammbrüche hinarbeiten, ist mir unbegreiflich. Das fehlende Bewusstsein, dass es hier nicht um die Frage geht, wie und ob eine Partei die Gesellschaft abbildet, sondern vielmehr um die Einsicht, welche Folgen diese Art der bizarren Solidarität hat. Dass es in der Politik nicht darum geht, die privilegierte Peergroup zu verteidigen, sondern sich solidarisch mit denen zu zeigen, die eben nicht so sind, wie man selbst, mit denen, die verwundbar sind. (Und zwar im Geiste dieses Grundgesetzes, bei dem man sich ja wundert, wie nach zwölf Jahren NS mit der deutschen Sprache noch etwas so Brauchbares geschaffen werden konnte). Es gibt ja immer Stimmen, die meinen, Antisemitismus habe es immer gegeben und er sei einfach Bestandteil der Wirklichkeit und ein kleiner antisemitischer Ausrutscher sei nicht so dramatisch, betreffe auch nur eine winzige Minderheit auf diesem Planeten. Doch erstens kommt der Antisemitismus ganz gut ohne Juden aus und zweitens besitzt er eine ganz eigene Dynamik. Dass man nicht alles dransetzt, hier vorzubeugen, oder, wenn´s schon spät ist, mit allem, was geht, gegenzusteuern, kann ich schwer nachvollziehen.

Esther Kontarsky, 1969 in Köln geboren und in Stuttgart aufgewachsen. Studium der Musikwissenschaften, Judaistik und Romanistik in Berlin. Ihre Eltern sind Musiker_innen, ihre Mutter kommt aus einer polnisch-jüdischen Familie, ihr Vater aus einer polnisch-katholischen Familie. Esther Kontarsky und ihre Schwester sind nichtreligiös aufgewachsen, aber mit zehn/elf Jahren in die Jüdische Gemeinde in Stuttgart eingetreten. "In Berlin habe ich studiert wegen einer Fächerkombination, die sonst nicht möglich gewesen wäre und dort geblieben bin ich dann, weil es die Stadt mit doch vergleichsweise am stärksten differenzierten Jüdischen Gemeinde war und ist. Außerdem die mit den ersten Minjanim, die Frauen das Torahlesen erlaubt haben." Esther Kontarsky hat fünf Kinder und lebt und arbeitet als Übersetzerin in Berlin.

Mehr Infos zum Karagöz-Schattentheater unter: www.jmberlin.de/karagoez-selber-machen

Die Videos der Mitmach-Aktion zum Karagöz-Theater findet ihr auch auf der Website der Virtuellen Langen Nacht der Religionen 2020 nachtderreligionen.de

JETZT ERST RECHT!
Um die Erfahrungen, Perspektiven und Forderungen von jüdischen Menschen in Deutschland sichtbar zu machen und ihnen abseits der Statistiken ein Gesicht und eine Stimme zu geben, hat die jüdische Fotografin und Journalistin, Herausgeberin von AVIVA-Berlin Sharon Adler ihr neues Projekt JETZT ERST RECHT! initiiert.



Mitmachen

Wenn Du auch Interesse hast, an dem Interview- + Fotoprojekt JETZT ERST RECHT! teilzunehmen, kannst Du Dich per eMail mit Sharon Adler unter sharon@aviva-berlin.de in Verbindung setzen. Bitte sende in dieser eMail Deine Motivation und einige biographische Informationen.

Gefördert wurde das Interview- + Fotoprojekt von der Amadeu Antonio Stiftung.



Copyright: Gestaltet wurde das Signet JETZT ERST RECHT! von der Künstlerin Shlomit Lehavi. Alle Rechte vorbehalten. Nutzung ausschließlich nach vorheriger schriftlicher Anfrage und Genehmigung durch AVIVA-Berlin.





Copyright Foto von Esther Kontarsky: Esther Kontarsky



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Beitrag vom 29.11.2020

AVIVA-Redaktion